Die Ära Cranko (1961 – 1973)

© Hannes Kilian

Die Ära Cranko (1961 – 1973)

© Hannes Kilian
Im Jahr 1961 wurde John Cranko, vom Sadlers Wells Theatre aus London kommend, zum Ballettdirektor und Choreographen des Ballettensembles in Stuttgart ernannt. Cranko schrieb in den folgenden zwölf Jahren nicht nur eines der erfolgreichsten Kapitel der Stuttgarter Ballettgeschichte, sondern eroberte auch einen Platz in der Riege der bedeutendsten Choreographen weltweit. Eine zielstrebige, auf intensive Förderung und persönliche Entfaltung angelegte Repertoire- und Ensemblepolitik sowie die Ausschöpfung seines außergewöhnlichen choreographischen Talents waren die wesentlichen Mittel, mithilfe derer er das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm führte.

Zu Beginn seiner Direktion versammelte der damals 34-jährige Choreograph Tänzerpersönlichkeiten wie Egon Madsen, Richard Cragun, Birgit Keil, Ray Barra und die brasilianische Tänzerin Marcia Haydée um sich. Vor allem Crankos großangelegte Handlungsballette Romeo und Julia (1962), Onegin (1965; Neufassung 1967) und Der Widerspenstigen Zähmung (1969) eroberten die Herzen des Publikums und überzeugten – wenn auch nicht immer sofort – die Kritiker. Cranko erzählte dramatische Handlung durch Tanz: technisch anspruchsvolle Variationen, große Ensembleszenen und emotionale Pas de deux fügen sich in seinen Stücken stets zu einer bewegenden Geschichte. Dabei zeichnet ein flüssig gehaltener Handlungsgang, geschickte dramaturgische Eingriffe und profilierte Figurencharakteristik seinen Stil aus. Romeo und Julia zur Musik von Sergej Prokofjew gab 1962 den ersten Eindruck von Crankos Talent für die große erzählerische Form, in der es ihm – ganz im Sinne Noverres – mehr auf darstellerischen Ausdruck denn auf tanztechnische Perfektion ankam. Einen bisher für das Ballett nicht erschlossenen Stoff wählte Cranko für sein nächstes Handlungsballett: Alexander Puschkins Versroman Onegin. In der 1967 uraufgeführten zweiten Fassung wurde das Stück zu einem Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts. Seinen internationalen Siegeszug trat Onegin 1969 an, als Cranko und seine Compagnie erstmals zu einem mehrwöchigen Gastspiel nach New York eingeladen wurden und der New Yorker Tanzkritiker Clive Barnes „Das Stuttgarter Ballettwunder“ ausrief. Kurz zuvor hatte Cranko ein drittes Meisterwerk vollendet, erneut nach William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung, das als Ballettkomödie schlechthin gilt.

Doch Cranko schuf nicht nur abendfüllende Handlungsballette, auch die kleinere Form und abstraktes Ballett interessierte ihn. In Stuttgart schuf er Stücke wie Jeu de Cartes (1965), Opus 1 (1965) und Initialen R.B.M.E. (1972), womit er eine Vielseitigkeit in Bewegungssprache und Herangehensweise zu Tage legte. Zudem zeigte sich Cranko äußerst großzügig anderen Choreographen gegenüber, die er ermunterte eigene Werke zu choreographieren und denen er Raum wie Tänzer zur Verfügung stellte. So begannen allen voran John Neumeier und Jiří Kylián, beide Tänzer unter Cranko in Stuttgart, ihre internationale Karriere. Darüber hinaus lud Cranko Gastchoreographen ein und sorgte auf diese Weise für eine weitere Differenzierung des Stuttgarter Repertoires. Die Noverre-Gesellschaft, eine Vereinigung Stuttgarter Ballettliebhaber, die im Jahr 1958 gegründet worden war, unterstützte Cranko maßgeblich in seiner Förderungspolitik. Zusammen machten sie das Stuttgarter Publikum zu einem der aufgeschlossensten, informiertesten und leidenschaftlichsten weltweit. Besonders die Förderung „Junger Choreographen“, so der Titel ihrer programmatischen Veranstaltung, steht im Mittelpunkt und diente vielen kreativen Talenten als Sprungbrett.

Auch der tänzerische Nachwuchs lag Cranko am Herzen und 1971 schaffte er es, die erste staatliche Ballettschule der Bundesrepublik zu gründen. Mit der Eröffnung der 1974 in John Cranko Schule umbenannten Ballettschule legte er das Fundament für eine der heute hochwertigsten und anerkanntesten Ballettausbildungsstätten weltweit.